TRINÄR: Unterwegs

Unterwegs
Es geschah vor vielen und noch mehr Jahren, sodass sie sich an den Tag, an dem es tatsächlich geschah, nicht mehr genau erinnern konnte. Etwas in ihr drängte sie ihr Zuhause, diesen behüteten Ort, irgendwo in den Tälern des Gebirges, zu verlassen. Sie hatte einen kurzen Brief an ihre Eltern geschrieben, der erklären sollte, was sie nicht verstehen würden. Auch an ihre Geschwister hatte sie ein paar Worte gerichtet und zuvor ihre beste Freundin in ihr Vorhaben eingeweiht, die seit jenem Zeitpunkt nicht nur zur Mitwissenden, sondern geradezu zur Komplizin geworden war.
Oft hatte sie sich gefragt, wo der Weg beginne oder enden würde, der hinter dem Gartenzaun ihres Hauses herführte, was hinter seiner nächsten Biegung lag, dem am entferntesten Baum, den sie von ihrem Fenster aus sehen konnte, dem hohen Berg, von dem sie wusste, dass er bis an die Wolken reichte oder wohin das Wasser flösse, das aus einer Quelle weiter oben entsprang und durch die Wiese hinabfloss, um sich in einem Bach, weiter unten im Tal, zu ergießen.
Sei nicht immer so neugierig, sagte ihre Mutter, wenn ihre Fragen kein Ende fanden und schickte sie irgendwelche Besorgungen oder Arbeiten zu erledigen, die sie meist widerwillig, fast beleidigt, verrichtete. ‚Ich will es doch nur wissen‘, dachte sie dann und wenn es mir niemand sagt werde ich so lange suchen, bis ich eine Antwort gefunden habe.
Eines Tages, der Frühling hatte nach langem, schneereichen und frostigen Winter endlich das enge Tal erreicht, war sie aufgebrochen. Schon Tage vorher hatte sie ihr Fortgehen vorbereitet, hatte darauf geachtet, dass ihre Lieblingskleidung gewaschen würde, hatte sich einen kleinen Vorrat an Proviant angelegt, die Briefe geschrieben, ihren Rucksack gepackt, der sonst noch enthielt, was sie auf keinen Fall zurücklassen wollte und war aus dem Haus gegangen. Es war viel einfacher und unaufgeregter, als sie es sich vorgestellt hatte. Leise, auf Socken, die Schuhe in der Hand, war sie zur Tür hinaus. Nach Norden wollte sie, denn dort, das wusste sie, läge irgendwo die große Stadt, von der sie schon viel gehört und gelesen hatte, und die ihr all das bieten würden, wonach sie sich sehnte.
Es war ein langer Weg, den sie schon zurückgelegt hatte. Sie ahnte, dass ein beängstigend größerer Teil noch vor ihr lag und sie mit ihren Kräften und Ersparnissen haushalten müsse. Doch immer, wenn sich ein zweifelnder Gedanke einschleichen wollte, schaute sie neugierig auf das, was vor ihr lag und erinnerte sich mit Freude daran, was sie schon gesehen und erlebt hatte.
Eines Tages, in irgendeinem Dorf durch den ihr Weg führte, begegnet ihr ein blinder Mann. Er saß, scheinbar in sich versunken, mit einem Hund und seinen wenigen Habseligkeiten auf einer Decke. Er hatte eine leere Metallbüchse und ein Pappschild vor sich hingestellt, darauf zu lesen stand: „Für einen Rat bitte eine kleine Spende“.
Sie blieb stehen, grüßte ihn, überlegte einen Moment lang, was sie den Blinden fragen könne, damit er ihr einen Rat erteile und sie ihm ein paar Münzen in die Dose legen könne. Doch bevor sie eine Frage formulieren konnte richtete er sich plötzlich auf, und fragte sie nach dem Woher und Wohin.
„Ich bin unterwegs, will hinaus in die Welt“, antwortete sie.
„In welche Welt willst Du?“, fragte der Blinde mit brüchiger, rauer Stimme.
„Gibt es denn noch andere Welten als diese eine?“, fragte sie erstaunt zurück.
„Ich höre, du hast mich verstanden. Nun geh schon, verliere keine Zeit“, sagte er und versank wieder in die seine.
Sie warf nur ein kleines Almosen in die Büchse, denn einen Rat hat er mir nicht gegeben, dachte sie. Danach setze sie ihren Weg fort, um ihre Welt zu entdecken und je länger ihre Reise andauerte, je mehr sie erfahren hatte, je besser verstand sie den blinden Mann, dessen Worte sie ihr Leben lang begleiteten.
H.-U. Heuser
III/2025